Sören SchmelingNahes Blitzen, weiter Blick
Fotoblitzlampen werfen ihr Licht an die Wände der verdunkelten Kunsthalle Basel. Masken in phosphoreszierenden und fluoreszierenden Farben leuchten auf und glimmen nach. In Neongrün- und –orange erstrahlen gemalte Adaptionen kultischer Kunstobjekte aus Nigeria und Neu-Guinea. Die Wandmalereien und -zeichnungen sind Teil der Rauminstallation Distant Glance, die Cécile Hummel im Rahmen der Gruppenausstellung Exposed Exhibitions – Fotoarchiv der Kunsthalle Basel im Herbst 2017 umsetzte. Sie fungieren auch als Nachbilder zweier Ausstellungen der Kunsthalle Basel aus dem Jahr 1962, zu denen Hummel im Fotoarchiv eingehend recherchierte. Der damalige Kunsthallendirektor, Arnold Rüdlinger, hatte das zeitgenössische Kunsthaus für zwei Sonderschauen – Nigeria 2000 Jahre Plastik und Die Kunst Neu-Guineas – geöffnet.
Hummels Wandarbeiten scheinen nicht nur das Licht der Studio-Blitze zu absorbieren und zu reflektieren, sondern auch die Blicke der Besucherinnen und Besucher selbst. Das plötzliche Aufblitzen der Antlitze erinnert bisweilen an den Effekt aufscheinender weißer Zähne im Schwarzlicht eines Clubs. Hier wie da wird man erst auf dem zweiten oder dritten Blick wichtiger Details ansichtig, bleibt nach anfänglicher Überraschung hängen, erkennt fein gezeichnete Gesichtszüge: mal ein maskenhaftes Lachen, dann wieder übergrosse Ohren oder Augen. Auch die bis in luftige Höhen der Wand ragenden, in Orange gehaltenen Totemstehlen zeigen nach genauerer Betrachtung eine geometrische Binnenzeichnung.
Zurückgenommener hingegen wirken Cécile Hummels Fotoserien, die die Wandmalereien flankieren. Im von Blitzen durchzuckten Halbdunkel wabert Licht über die hinter Glas gerahmten Fotografien, das von einer großformatigen Projektionsleinwand zurückgeworfen wird. Auf der Leinwand ist eine digitale Videocollage von Esther Hunziker zu sehen. Das bewegte Licht gibt die Fotos nur sukzessive und teilweise preis und verlangt in dieser Konstellation fast forschendes Hinschauen und Einlassen. Der Blitz, der sich auf den verglasten Fotos widerspiegelt, blendet und erzeugt dabei eher einen Moment der Blindheit im Betrachten. Die sich wandelnde Beleuchtungssituation durch die Videoprojektion – deren Hell-Dunkelphasen Esther Hunziker zusammen mit Cécile Hummel in Intensität und Rhythmus auf die Wirkung der Wand- und Fotoarbeiten abgestimmt hat – erscheint wie ein Streiflicht in einem höhlengleichen Raum. Wandmalerei und Lichtzeichnung im irrlichternden Flackern digitaler Bildbewegung. Es sind genau diese vielschichtigen Überlagerungen und zugleich Aktualisierungen des Historischen, Fremden und Archaischen, die die Dimensionen von Hummels Arbeit wie in einer Mehrfachbespiegelung erweitern.
Die Wiederbelichtung des historischen Fotomaterials aus den frühen 1960er Jahren, darunter auch Grossbildnegative von Fachkameras, die durch den Zersetzungsprozess des Essigsäuresyndroms eine Oberflächenfaltung bzw. -zeichnung aufweisen, bewirkt eine mehrfache Aktualisierung.
Hummel nimmt das ehemals eingefangene Licht aus dem Jahr 1962 im Tageslicht von 2017 auf und stellt damit dezidiert keine Repro-Aufnahmen im fotohandwerklichen Sinne her. Sie versucht nicht die Belichtung des ‚Originalabzugs‘ nachzuempfinden. Auch lässt Cécile Hummel ihre Tochter die Fotografien so vor die Kameralinse halten, dass sowohl deren behandschuhte Finger, als auch die Schäden der gealterten Fotografien im Bild sichtbar bleiben. Damit wird nicht nur das Foto als Objekt im Hier und Jetzt erkennbar, sondern auch der menschliche Zugriff und Blick darauf, der als bewusst beeinflussende Grösse mit hinzutritt.
Einige der von Hummel ausgewählten Fotografien zeigen Masken, die dem Totenkult dienten und damit mythologische Inhalte transportierten. Dass Hummel unter anderem gerade diese Sujets aus dem Archiv wählte, könnte auf fototheoretische Überlegungen der Künstlerin hindeuteten. Roland Barthes spricht in seiner Abhandlung Die helle Kammer über die Bedeutung und die Schwierigkeit des Ablichtens von Masken. Die Maske als die Versinnbildlichung des Antlitzes, mit seinen individuellen, gesellschaftlichen wie kulturellen Einschreibungen, kann im Medium der Fotografie eine geradezu erschütternde Direktheit erlagen, so sie unverstellt und ohne das Momenthafte, Effekthascherische und Zufällige der fotografischen Abbildung auskommt. Indem Cécile Hummel die Masken nochmals freilegt, da sie auch den Träger, die Fotografie, auf der sie verewigt sind, demaskiert, werden sie potenziert ins Diesseits, ins Jetzt geholt.
Mit diesen Aktualisierungen scheint zugleich auch eine Verlebendigung des Gezeigten einherzugehen. Nach Barthes ist die Fotografie mit dem Tod verknüpft, da sie durch das Einfrieren des Moments im Auslösen zugleich die Endlichkeit und Vergänglichkeit des Abgebildeten zeigt. Im „(>>Es-ist-so-gewesen<<)“ der Fotografie, verknüpft sich nach Barthes aber auch Vergangenes mit dem Moment des Realen. So berichtet er von dem bisweilen befremdlichen Effekt, dass durch das unbewegte Medium der Fotografie bereits Totes eher eine Verlebendigung erfährt. Die Fotografie verleiht dem dauerhaft ‚Stillgestellten‘ im Augenblick des Festhaltens eine höhere Präsenz des Realen, die nach seiner Meinung im Auge des Betrachters direkt mit dem Lebendigen zusammengesehen wird. Der Leichnam, die Totenmaske, ja die untergegangene Kultur wird somit in einen neuen Lebenszusammenhang gestellt.
Cécile Hummel holt nicht nur die Masken und Kultobjekte ins Leben zurück, sondern auch die bereits von Vergänglichkeit gezeichneten, beschädigten Archivfotografien selbst, die als Relikte die ephemeren Ereignisse jener fast vergessenen Ausstellungen bezeugen.
Eine ähnliche Verschränkung spiegelt sich auch in der Lichtregie der Installation: Das Blitzlicht beleuchtet primär die von Menschenhand individuell ausgeführten, malerischen Adaptionen der einst öffentlich ausgestellten, musealen Objekte. Zugleich simuliert der Blitz die momenthafte fotografische Aneignung. Doch anders als bei der Ablichtung im möglichst sterilen Fotostudio, führt das Blitzen nicht zum Kalt- und Ruhigstellen, vielmehr werden die Gemälde durch den Lichtimpuls aufgeladen und geben diese Energie als Nachleuchten den Betrachterinnen und Betrachtern wieder zurück. Diese Herangehensweise wirft zugleich ein kritisches Schlaglicht auf den bis heute andauernden Bildverbrauch „kultureller“ Fotosafaris: Das bloße Abschießen der Kulturobjekte wird durch Cécile Hummels Nachbildprozess, jenem kurzen Weiterleben der eigenhändig hergestellten Bildwerke, konterkariert.
Auch die Präsentation der Fotografien zeugt von dieser Unterminierung des Bildverbrauchs: Das darin eingefangene Licht und die darin eingeschriebenen mehrfachen Aktualisierungen und Verlebendigungen werden als zeitliche Bildschichtungen erst sukzessive im digitalen Streiflicht der Videoprojektion freigelegt.
Diese Ambivalenz in der Sichtbarmachung von Objekten fremder Kulturen zeugt zugleich von einer respektvolle Aneignung der progressiven Idee Arnold Rüdlingers, diese Kunstwerke an einem Ort für zeitgenössische Kunst präsent zu machen. Cécile Hummels ästhetische Interventionen gegenüber einer vermeintlich offensichtlichen Darstellung des vorgefundenen oder neu gestalteten Fremden, verhalten sich dabei diametral zu überkommenen Präsentationsformen von Kunst fremder Kulturen: Sei es die abwertende Demonstrationen von Weltgewandtheit in Kunst- und Wunderkammern privater Sammlungen oder die exotistische Anreicherung der künstlerischen Formensprache in westeuropäischen Kunstströmungen des frühen 20. Jahrhunderts. Auch unterscheidet sich ihre Art des Zeigens von der rein didaktischen Zurschaustellung der Kunstwerke in Völkerkundemuseen bis weit über die 1960er Jahre hinaus, die selbst in der Präsentation der Kunsthalle ihre Spuren hinterließ. War der Ort für zeitgenössische Kunst zwar unkonventionell, wurden dennoch altbewährte Rezeptionskrücken wie Schautafeln, Vitrinen und Sockel eingesetzt, die streckenweise die Wahrnehmung des in den Ausstellungskatalogen beschworenen Eigenwerts der Kunstwerke behinderte.
Cécile Hummels subtiler künstlerischer wie dokumentarischer Zugang, der Recherche, Aneignung und Sichtbarmachung in der Schwebe hält, ist zugleich eine Reflexion auf den langwierigen Prozess der Anerkennung jenes Eigenwerts von Kunstwerken anderer Kulturen in Westeuropa. Auf diesen Prozess verweist die Künstlerin in ihrer Vitrine, die abstrakte Anleihen an die Formen der kultischen Objekte selbst nimmt. In der permanent beleuchteten Auslage deuten Mappenwerken und Zeitschriften, in loser, nicht belehrender Weise, Spitzlichter der Rezeption fremder Kultur in den 20er, 30er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts an. Kommentiert wird diese fragmentarische Auswahl mit einem Zitat des Basler Ethnologen, Sammlers und Reisenden Felix Speiser (1880-1949), das Hummel in ihrer eigenen Handschrift unscheinbar und fast zu überlesen auf einem Zettelchen zwischen die Dokumente legt: „Wie verändern Objekte die Kultur, in die sie eintreten?“
Die Antwort, die Cécile Hummel – selbst eine Reisende in fremden Kulturen und Sammlerin von gemalten, gezeichneten und fotografierten Erfahrungen von Fremd- und Neuwahrnehmung – gibt, ist nicht eindimensional: Erst in der Dunkelheit des Unbekannten weitet sich unser Blick, macht uns offen, mehr zu sehen. Doch erblinden wir fast, wenn wir das Gesehene, das Ferne, das Vergangene mit einem Schlaglicht im Hier und Jetzt fassen, festhalten und einfach begreifen wollen.
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