Katrin GrögelZeit Sehen – Cécile Hummel, «Zurück-Blicken»2012
Es mag sein, es ist sogar wahrscheinlich, dass Sie etwas anderes sehen als ich gesehen habe. Denn die Anordnung der einzelnen Bilder zueinander in Cécile Hummels installativer Hängung «Zurück-Blicken» ist variabel. Sie ändert sich bei jedem Einrichten, die Künstlerin entscheidet jedes Mal von Neuem über ihre Anzahl und Abfolge, gegebenenfalls auch über den Einbezug von kontrastierenden oder ergänzenden Bildern aus einer anderen Serie. Die Wandinstallation kann sich über die Grenzen des Feldes, das mit einem Blick erfasst werden kann, ausdehnen, oder, sie kann sich auf wenige Bilder in einer grossen Dichte zusammenziehen. Je nachdem werden unsere Blicke auf unterschiedlichen Fährten, von Szene zu Szene getrieben, in die satten Tiefen der Dunkelheiten eintauchen und über die hellen Stellen huschen. Sie werden an einem Augenpaar oder an einer Geste, an einem Farbklang, einer Markierung in unleserlicher Spiegelschrift, an den geisterhaften Schemen einer Überblendung, an der mutwilligen Löschung oder Auszeichnung eines Details hängen bleiben. «Was wir sehen, blickt uns an.» Was hier den Blick erwidert sind weniger die in den historischen Fotografien portraitierten Personen, als die Anzeichen für den Prozess der künstlerischen Arbeit an den vorgefundenen Bildern, den ich zugleich als die Zeitspanne von Hummels eigener aktiver Bildbetrachtung interpretieren möchte. Dieser Prozess ist sichtbar und dennoch nicht abgeschlossen. Auch die Hängung, die Sie in Siegen sehen werden, wird nur ein temporäres Innehalten gewesen sein.
Hummels Wandinstallation basiert auf einem Konvolut von Glasnegativen, das sie einem Strassenhändler in Süditalien abgekauft hat. Die Aufnahmen entstanden in den 1930er und 1940er Jahren in einem Fotostudio. Sie zeigen Personen, die für ihr Portrait posieren, einzeln oder zu zweit, als Paar oder als Familie. Diese Personen verbindet, dass sie im selben Staffage-Mobiliar, beleuchtet von Scheinwerfern, in Sonntagsstaat Haltung einnahmen und still standen, um gemeinsam mit dem Fotografen ein Bild zu erzeugen, von dem sie annehmen durften, dass es eine Gültigkeit über den Moment hinaus haben würde; dass Angehörige, Freunde und Geliebte in der Ferne oder in der Zukunft dieses Portrait aufbewahren, in ihren Wohnstuben aufhängen und ihren Angehörigen, Freunden und Geliebten zeigen würden. Die Abzüge, die die Kunden des Fotostudios erhielten, zeigten allerdings etwas ganz anderes als das, was uns anblickt. Die Differenz beginnt bereits damit, dass sich Hummel dafür entschied, ihre Abzüge von den Glasnegativen nicht zu beschneiden, keine Ausschnitte zu wählen, die Leerräume ebenso wie die Hilfsmittel des Posierens – zum Beispiel den Schemel, auf dem der kleine Junge steht – stehen zu lassen. Sie greift sozusagen auf die Rohfassung der Bildnisse als Produktionsszenen zurück und ihre Bearbeitung folgt einer komplett anderen Logik als diejenige eines Auftragsporträts. Hummel scannte die Abzüge der Fotos ein und druckte sie im Offset-Verfahren aus. Sämtliche Manipulationen der Künstlerin an den Einzelbildern sind semi-transparente Schichtungen und samtig-matte Färbungen, die erst im analogen Druckverfahren erzeugt wurden. Ich verstehe Hummels Überarbeitungen als eine Art close reading der Produktionsszenen, in denen der indexikalische Verweis der Fotografien auf eine Vergangenheit mit den Spuren der Betrachtung durch die Künstlerin überlagert wird. An den Schichtungen des Druckverfahrens und an der Anordnung der Einzelbilder zueinander lässt sich der Arbeitsprozess der Künstlerin nachvollziehen. Durch diesen Aneignungsprozess der subjektiv-künstlerischen Lektüre werden die Bilder Teil von Hummels Vokabular, gleichsam Wörter, die sie von nun an verwenden und mit denen sie immer wieder neue Sätze bilden kann. Unsere Augen bewegen sich in der Textur von Hummels Lektüre.
Soweit eine erste Antwort auf die Frage, was Cécile Hummel mit Bildern tut, wie sie mit ihnen arbeitet und was sie herstellt. Die Frage, die der Ausstellung, zu der die vorliegende Publikation erscheint, zugrunde liegt, verlangt aber noch nach einer zweiten Antwort; einer, die die Handlungsdimension dessen was Hummel mit Bildern tut, beschreibt. Ich möchte vorschlagen, dass der clou von Hummels Installation – in all ihren Variationen – darin liegt, dass sie uns «Zeit» sehen lässt. Zeit ist keine Substanz und damit nicht als solche erfassbar oder darstellbar. Sie muss als Phänomen erfahren werden. Einige Aspekte von Zeiterfahrung, die in Hummels Arbeit eine Rolle spielen, habe ich bereits benannt: die unabschliessbare Prozessualität des Werks, die sich bis in unsere Zeit der Betrachtung fortsetzt, sowie die Indices von vergangener Zeit als Markierungen von mehr oder weniger gedehnte Momente im Verlauf der Herstellung der Bilder. Darüber hinaus, so möchte ich behaupten, ringt Hummel den historischen Produktionsszenen eine Tiefendimension von Zeit ab, die sich vor unseren Augen entwickelt. Man kann Hummels Arbeit an den Bildern als ein Verfahren verstehen, das die gefundenen fotografischen Momentaufnahmen zugleich aktualisiert und distanziert. In der Installation wird eine zeitliche Dynamik aufgefaltet, die in ihrer visuellen Sinnlichkeit einen «Denkraum» eröffnet.
Hummel ist eine Italien-Liebhaberin und in vielen ihrer fotografischen Serien und Installationen spielen das «Nachleben» der Antike und die Umformung von historischen Bildmotiven eine wichtige Rolle. Das beständige Ordnen und Umordnen von gezeichneten, selbst fotografierten und gefundenen Bildern als ein assoziatives Verfahren mit Erkenntnispotential ist Teil ihrer künstlerischen Praxis. Darin kann man selbstverständlich viele Anklänge zu Aby Warburg finden. Der für mich wesentliche Punkt im Hinblick auf eine Nähe zu Warburgs Methoden und Anliegen ist jedoch, dass Hummels Umgang mit Bildern Zeiträume als Denkräume aufspannt.
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