Barbara von FlüeVom Zeichnen des Lichtes
Eine hochformatige, grosse Fläche ist mit mehreren Schichten schwarzer Gouachefarbe bedeckt. Längliche, schmale Bänder sind ausgespart und formen ein weisses Gebilde, welches sich im oberen Bildbereich strahlenförmig um ein Zentrum gruppiert und von da aus gegen die Blattränder drängt. Einzelne Pinselstriche in verschiedenen Grautönen umreissen die Figur und lassen erahnen, wie Cécile Hummel Farbschicht um Farbschicht aufgetragen und das strahlenförmige Objekt gleichsam aus dem Papier herausgearbeitet hat. Aus der Tiefe des Bildgrundes leuchtet es uns entgegen, Lichtstrahlen, die aus dem Schwarz des Bildes herausschimmern. Ein Nachtbild, aus dem uns gleissendes Neon entgegenzündet? Ein fotografisches Negativbild, in welchem weiss ist, was zuvor dunkel und ohne Licht war?
Im westlichen Verständnis bildet das weisse Blatt die Grundvoraussetzung der Zeichnung, der mit dem ersten Strich dieses Etwas gegenübergestellt wird, das sich vom Grund abhebt und im visuellen Kontrast als Figur Präsenz erlangt. Cécile Hummel kehrt dieses Verhältnis in ihren neusten Zeichnungen gerade um: Das weisse Papier ist nicht länger nur tragender Grund, sondern wird so in die Gestaltung einbezogen, dass es plastische Greifbarkeit erlangt und sich räumlich und zeichenhaft ausdifferenziert.
Wie anders könnte man das Licht besser zeichnen? Diese Umkehrung mag mit der Idee einer künstlerischen Erforschung von Lichtphänomenen zusammenhängen. Mit dem Blick einer Flaneurin, beiläufig, jedoch präzis beobachtend, hat sich die Künstlerin durch die Grossstadt Berlin bewegt und dabei festgehalten, was ihr ins Auge stach: Leuchtreklamen und Leuchtschriften, Innenräume, geprägt von der Formensprache der 50er Jahre, aufwendig gestaltete Lichtquellen und Deckenleuchten, die von einer anderen Zeit und der Freude an Glitzer und Glamour erzählen. Doch das Licht findet nicht nur motivisch Eingang in die Arbeiten von Cécile Hummel. Es hat zu einer zeichnerischen Sprache geführt, die das Licht als Gestaltungsmittel reflektiert. Die weissen Leerstellen auf dem eingangs beschriebenen Blatt können gleichsam als Spuren eines fotografischen Sehens verstanden werden, jenes Mediums also, das das Licht zur Hervorbringung von Bildern einsetzt. Auch andere Blätter zeugen von einem fotografischen Blick. So zum Beispiel, wenn die Künstlerin auf einem weissen Grund Kreise strahlenförmig anordnet, so dass sie sich überschneiden und zur Blattmitte hin stufenweise dunkler und opaker werden. Als hätte das Licht gezeichnet – wir erinnern uns an Fotogramme von Man Ray oder László Moholy-Nagy, in denen Objekte auf einer lichtempfindlichen Schicht verschoben wurden und dem Betrachter rätselhafte Bildräume eröffnen. Die Zeitlichkeit, die sich beim Fotogramm als Spur seiner Entstehung in das fertige Bild einschreibt, findet sich auch in den Zeichnungen von Cécile Hummel. Die transparenten Schichtungen suggerieren nicht nur Bildtiefe, Räumlichkeit, sondern auch Bewegung. Die Gegenstände scheinen zu atmen und lautlos, flüchtig über das rechteckige Blatt hinwegzuziehen; als wären es Spuren einer Anwesenheit, die sich im Augenblick ihrer Wahrnehmung bereits wieder verflüchtigen. Cécile Hummels Bildverständnis nährt sich ganz wesentlich aus der gleichzeitigen Arbeit mit unterschiedlichen künstlerischen Medien. Letztlich dreht sich ihre künstlerische Arbeit um Fragen der Wahrnehmung, wobei mediale Interferenzen das Bewusstsein für die Bedingungen und Grenzen der jeweiligen künstlerischen Ausdrucksweise schärfen.
Ausgangspunkt der in diesem Buch versammelten Arbeiten ist ein sorgfältiges und aufmerksames Erforschen des Umraums, das die Künstlerin während ihres Aufenthaltes in Berlin in sieben Skizzenheften festgehalten hat. Mit schnellen Kugelschreiberzeichnungen hat sie ihre Umgebung erkundet, hat in Stichworten teilweise stoffliche Qualitäten oder Details zum Gesehenen festgehalten. Während die Linien des Kugelschreibers den Konturen und Oberflächen der Objekte entlangfahren, die Gegenstände von ihren Rändern her definieren, fokussiert das Zeichnen mit Gouache auf die Übergänge und Bereiche zwischen den Linien. Es gibt sie zwar auch, die mit dem Pinsel gezogenen Linien, meist jedoch sind sie zusammen zu sehen mit Flächen aus verschiedenen Grauschattierungen. Dabei löst sich das hierarchische Verhältnis von Figur und Grund oft auf, der Bildgrund wird zum Element der Zeichnung, das in, mit und gegen sie wirkt.
Aufschlussreich ist diesbezüglich ein kleinformatiges, auf den ersten Blick unscheinbares Blatt, bei dessen Betrachtung einem das präzise Aufeinanderbezogensein von Farbe und Papier wirkungsvoll vor Augen geführt wird. In diesem Bild tritt kein Element bildbeherrschend auf, vielmehr scheint das ganze Gefüge zu oszillieren. Wir sehen schwarze und graue Flächen, die den Bildgrund von den Blatträndern her einfassen; dazwischen tropfenförmige Formen, die scheinbar im Leeren hängen. Wir sehen jedoch auch weisse Wäsche, die sich im Wind leicht zu bewegen scheint; die von einem schwarzen Rechteck umschrieben wird –, als müsste die Bewegung optisch stabilisiert werden. Figur und Grund, Amorphes und Konkretes changieren, fordern unsere Beteiligung, ja das kleine Blatt hat etwas von einem Spiel, mit dessen Hilfe uns die Prozessualität unserer eigenen Wahrnehmung bewusst wird, das die ästhetische Wahrnehmungserfahrung zum Thema hat. Das Blatt reflektiert sein Gemachtsein, und legt als Bild seine visuellen Prämissen offen.
Wird der Bildgrund nicht länger nur als Träger des Bildes verstanden, sondern regelrecht aktiviert, so können auch seine Begrenzungen, die Blattränder, in den Gestaltungsprozess miteinbezogen werden. In den Zeichnungen von Cécile Hummel werden die Bildgegenstände oft angeschnitten und so im Bildgeviert platziert, dass sie dieses sprengen, über die Begrenzungen hinausdrängen. Diese Randkonflikte vermögen die Kräfte der Fläche von ihren Rändern her zu aktivieren – es gibt Zeichnungen, in denen das Dargestellte eine solch expansive Energie entwickelt, dass das Blatt sich optisch zu drehen beginnt. Dieses Wachsen über denn Blattrand hinaus und das Einbeziehen des Umraums müssen Cécile Hummel schon immer interessiert haben, schafft sie mit ihren Zeichnungen und Fotografien doch immer wieder auch installative Anordnungen, in denen sie Einzelblätter zueinander in Beziehung setzt. Dabei wird die Wandfläche, auf der die Blätter montiert werden, in die Bildwirkung einbezogen. Die einzelnen Arbeiten verlieren ihre äusseren Grenzen, weisen über sich selbst hinaus, schaffen Korrespondenzen zu anderen Blättern, die ihnen nachbarschaftlich zugehängt werden. Solche Zeichnungsinstallationen verlangen nach einem neuartigen Rezeptionsvorgang, in dem wir dem Werk nicht statisch gegenüberstehen, sondern uns im Raum des Bildes bewegen. Es ist ein assoziatives, bewegtes Sehen, das bestimmte Ordnungen suggeriert, diese jedoch im gleichen Zug wieder auflöst. Es ist dieses Öffnen, hin zu vielen Möglichkeiten, das für das Werk von Cécile Hummel ganz wesentlich ist. Dies zeigt sich auch im Umgang, den die Künstlerin mit ihren eigenen Blättern pflegt: Immer wieder dreht sie Zeichnungen auf den Kopf, macht Lampen zu Blumensträussen, um auf diese Weise neue Wahrnehmungswege zu eröffnen. Es ist, als ob uns die Bilder immer wieder zuflüstern würden: Es könnte so sein –, aber es könnte auch anders sein.
Dieses Bemühen, den Vorgang der Deutungszuschreibung nicht eng zu führen, sondern zu öffnen und möglichst beweglich zu halten, finden wir auch in einzelnen Zeichnungen. Es sind die Blätter, in denen die schnelle Wiedererkennbarkeit von Gegenständen ausser Kraft gesetzt ist. Wir sehen nicht primär Dinge, sondern Farben und Formen, die bei längerer Betrachtung ihre eigenen Kräfte und die Kräfte des Grundes aktivieren. So werden Vorstellungen von etwas, von Räumen, von Gegenständen, evoziert, jedoch in einer Weise, in der wir das Gemachtsein des Bildes stets mitsehen. Es sind die Blätter, in denen Cécile Hummel nicht eine visuelle Idee, ein vorgefasstes Konzept, einen disegno interno realisiert, sondern in denen sie sich während der Arbeit ganz wesentlich vom Blatt Papier, der Farbe, ihrer eigenen Hand, leiten lässt. Sie erfindet zeichnend, arbeitet mit und gegen die Bedingungen des Mediums, legt „lange Wege an, steigert das Bild – über das Bekannte hinaus – zu einem Spielraum für das Auge“. Diese Offenheit, diese Beweglichkeit aktiviert unsere Imaginationskraft, die – sehend – das Bild zu Leben erweckt. Es sind unser Blick, unsere Wahrnehmung, die das Bild gleichsam zu Ende führen, es immer wieder von Neuem realisieren, wobei wir dabei den Wegen folgen, die die Künstlerin mit Bedacht für uns angelegt hat.
Gottfried Boehm in Bezug auf die Malerei von Paul Cézanne, Gottfried Boehm, Unbestimmtheit. Zur Logik des Bildes, in: Bernd Hüppauf und Christoph Wulf (Hrsg.), Bild und Einbildungskraft. München 2006, S. 244. Weitere Anregungen verdanke ich: Werner Busch, Oliver Jehle, Carolin Meister (Hrsg.), Randgänge der Zeichnung. München 2007; Catherine de Zegher (Hrsg.), The Stage of Drawing: Gesture and Act. Selected from the Tate Collection. Ausst.-Kat. The Drawing Center, New York 2003; Gottfried Boehm, Gabriele Brandstetter, Achatz von Müller (Hrsg.), Figur und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen. München 2007; Cécile Hummel. Flüchtige Orte. Ausst.-Kat. Kunstmuseum des Kantons Thurgau, Sulgen/Zürich 2005, insbesondere dem Aufsatz von Maja Naef.